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Berlin setzt zum Welt-AIDS-Tag
die Gesundheit von Betroffenen aufs Spiel
Pressemitteilung und Hintergründe
Berlin, 1. Dezember 2007 – "Wir übernehmen
Verantwortung" – so lautet ab diesem Jahr das Motto des
Welt-AIDS-Tages, der immer am 1. Dezember begangen wird. Die Kassenärztliche
Vereinigung (KV) Berlin stellt das Gegenteil von Verantwortung unter Beweis.
Sie sorgt dafür, dass
* die bundesweit einmalig gute Versorgungsstruktur von Menschen
mit HIV und AIDS in Berlin verschlechtert wird, indem sie die zwingend
notwendige Sondervergütung deutlich kürzt – die AIDS-Schwerpunktpraxen
werden in der Folge Mitarbeiter entlassen müssen;
* Betroffene aus Brandenburg, aus anderen ostdeutschen Bundesländern
und solche mit zweitem Wohnsitz in Berlin überhaupt nicht mehr angemessen
versorgt werden, weil nur noch für Patienten, die bei einer Berliner
Gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, die Kosten übernommen
werden sollen.
"Ich riskiere eine Hexenjagd, wenn in meinem Ort bekannt wird,
dass ich HIV-positiv bin", sagt dazu ein Patient aus Brandenburg.
Aber selbst wenn er die niedergelassenen Ärzte, bei denen er bisher
hervorragend betreut wurde, verließe und andernorts eine Weiterbehandlung
anstreben würde: Er fände keinen Spezialisten. Es gibt in seinem
Bundesland keine einzige HIV-Schwerpunktpraxis. "Die KV Berlin
gefährdet die qualifizierte medizinische Versorgung von zahlreichen
Menschen", empört sich der Sprecher des Arbeitskreises AIDS
niedergelassener Ärzte Berlin e.V., Dietmar Schranz.
In Berlin leben rund 20 Prozent aller HIV-infizierten Menschen Deutschlands.
Hinzu kommen jene, die zum Teil von weither anreisen müssen, weil
es an ihrem Wohn- oder Arbeitsort keine oder nur eine unzureichende Versorgung
gibt. Die Behandlung von Menschen mit HIV oder AIDS erfordert nämlich
neben Spezialkenntnissen und Erfahrung einen erheblichen personellen und
apparativen Aufwand. Und Berlin ist bekannt für sein ausgezeichnetes
Netzwerk von Schwerpunktpraxen, Kliniken, Pflegediensten und Selbsthilfeprojekten.
Dies setzt die KV Berlin nun aufs Spiel.
Die bittere Ironie dabei: Die Gesetzlichen Krankenkassen selbst sind an
den genannten Kürzungen überhaupt nicht interessiert, im Gegenteil,
sie bemühen sich derzeit um bundeseinheitliche Regelungen für
eine Behandlung dieser Patienten mit hoher Qualität. Nur die Vertretung
der Berliner Kassenärzte (!) kann nicht rechnen: Wenn komplizierte
und aufwendige Behandlungen nicht mehr bei dafür geeigneten niedergelassenen
Ärzten stattfinden kann, müssen diese dann in Kliniken erfolgen
– und das ist deutlich teurer.
***
Die Behandlung der HIV-Infektion hat sich im Verlauf der letzten 20
Jahre grundlegend verändert. Während AIDS-Patienten in den ersten
Jahren aufgrund kaum beherrschbarer, oft tödlicher Folge-Erkrankungen
nur eine kurze Lebenszeit erwarten konnten, ist AIDS heute eine behandelbare
Erkrankung geworden. Dies darf nicht zur Nachlässigkeit beim Schutz
gegen den Erreger führen, ist aber für Menschen, die das Virus
bereits in sich haben, von unschätzbarer Bedeutung: Sie haben eine
deutlich längere Lebenserwartung.
Auch die ärztliche Tätigkeit wurde dadurch einem starken Wandel
unterworfen. Im Vordergrund steht heute die Koordination einer außergewöhnlich
komplexen und anspruchsvollen Therapie, die am ehesten einer Chemotherapie
bei Krebs-Patienten vergleichbar ist. Darüber hinaus zeigen sich
zum Teil schwerwiegende Langzeit-Nebenwirkungen der HIV-Medikamente, deren
regelmäßige Einnahme jedoch unverzichtbar ist. Kommt es zum
Beispiel durch Medikamentenresistenz zu einem Versagen der Behandlung,
sind hoch komplizierte und kostenträchtige Untersuchungen erforderlich,
um eine eventuelle Folgetherapie zusammenstellen zu können.
Der Arzt ist daher in hohem Maße gefordert, einen dauerhaften Therapieerfolg
zu sichern. Dies ist nur in regelmäßigen, ausführlichen
Gesprächen über die Wirkung der Medikamente, ihre kurz- und
langfristigen Nebenwirkungen sowie über die auftretenden Begleiterkrankungen
möglich. Der Aufwand für Personal, komplizierte Diagnostik,
Räumlichkeiten u.a.m. ist in solchen Praxen dementsprechend sehr
hoch.
Dieser Mehraufwand wurde seit Jahren über den "AIDS-Zuschlag"
vergütet, den die Krankenkassen mit der Kassenärztlichen Vereinigung
Berlin vereinbart haben. Er beträgt pro Quartal gerade einmal 61,36
€ für jeden behandlungsbedürftigen HIV-infizierten Versicherten
der Primärkassen (z.B. AOK) und 76,69 € für Versicherte
der Ersatzkassen.
In Deutschland bestehen in jedem KV-Bezirk unterschiedliche Regelungen
für die HIV-Behandlung. Seit November 2005 gibt es eine gemeinsame
Initiative der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Deutschen
Arbeitsgemeinschaft Niedergelassener Ärzte in der AIDS-Versorgung
(DAGNÄ), diese regionalen Sonderleistungen bundeseinheitlich in einem
"Vertrag zur qualitätsgesicherten Betreuung und Behandlung von
HIV/AIDS-Patienten" zu regeln.
Das Berliner Behandlungsnetz hat in ganz Europa Vorbild-Funktion. Es
gewährleistet eine ambulante und kostengünstige Versorgung der
Patienten auf hohem Niveau und vermeidet teure Krankenhausaufenthalte.
Trotzdem hat nun die KV Berlin die Sondervergütung drastisch gesenkt
– offenbar sind einigen KV-Mitgliedern diese Kranken wenig wert.
Der Alleingang der KV bedeutet eine Bedrohung für die ambulante Versorgung
von Menschen mit HIV und AIDS in der Hauptstadt sowie im Umland und konterkariert
alle Bemühungen für eine dauerhafte Lösung.
Bisher wurde die Neureglung "nur" für AOK-Patienten umgesetzt.
Sollte dies für alle Kassen erfolgen, würde das pro Schwerpunktpraxis
den Verlust einer Arzthelferstelle bedeuten – mit weit reichenden
Konsequenzen für die Patientenversorgung. Infusionsbehandlungen und
Chemotherapien, die bisher in der Schwerpunktpraxis durchgeführt
werden, müssten nun in die Klinik verlegt werden. Diese Argumente
lassen die KV Berlin kalt, denn die höheren Kosten zahlen dann die
Krankenkassen.
Die Kürzung der Sondervergütung war der KV Berlin noch nicht
genug, nun zieht sie die Daumenschrauben weiter an, indem sie Bestimmungen
über Regionale Sonderleistungen verschärft. Bisher wurde für
jeden in Berlin behandelten HIV-Patienten eine entsprechende Vergütung
bezahlt. Ab sofort soll das nicht mehr so sein. Für Patienten anderer
AOKs wird es ebenso wenig Sonderleistungen geben wir für Patienten
der Ersatzkassen oder anderer gesetzlicher Versicherungen, die ihren Wohnsitz
außerhalb Berlins haben. Konkret bedeutet das, dass der Arzt für
die Behandlung eines HIV-Patienten, der ins Berliner Umland zieht oder
aus Brandenburg in seine Praxis kommt, überhaupt keinen HIV-Zuschlag
mehr bekommen wird. Auch für AOK-Patienten, die aus anderen Bundesländern
nach Berlin ziehen, wird keine Sonderpauschale mehr bezahlt.
Auf Nachfrage wird am Servicetelefon der KV Berlin erklärt, die Patienten
möchten sich doch bitte an ihre örtliche KV wenden und dort
erfragen, wo sie in ihrem Bezirk behandelt werden können. Auf den
Hinweis, dass es in Brandenburg ebenso wie in den meisten anderen umgebenden
Bundesländern keine HIV-Schwerpunktpraxen gibt, erntet der beunruhigte
Anrufer Achselzucken.
Eine Kürzung der Sondervergütung würde nun auch die Berliner
HIV-Schwerpunktpraxen in die Knie zwingen und einen massiven Versorgungsengpass
verursachen.
Ansprechpartner für Medien:
Dr. Christoph Mayr
Ärzteforum Seestraße
Seestraße 64, 13347 Berlin
Tel.: 030/455 09 5-0
Mail
oder:
Dr. Gerd Klausen
Praxisgemeinschaft
Linienstraße 127, 10115 Berlin
Tel.: 030/282 50 52
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